THEOLOGIE DES LEBENS

Eine neue Erzählung über das Leben, wie wir es erfahren

Wie verändert sich mit dem Bild einer Welt voller lebendiger Beziehungen das Gottesbild?

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„Die Zeit ist reif“, schreiben Silke Helfrich und David Bollier in ihrem Buch „Frei, fair, lebendig – Die Macht der Commons“, „das allgemeine Glaubenssystem zu überdenken, das sich im säkularen Westen während der Renaissance entwickelt und im 18./19. Jahrhundert verfestigt hat.“ Diese „Onto- Geschichte“ (Ontologie = Lehre von unserem Sein und seinen Strukturen), „die wir ständig weitergeben“ betrachte uns als „Individuum beziehungsweise Vereinzelte. Als solche sind wir die primär Agierenden und bewegen uns in einem Außen: in einer Welt voller Dinge (einschließlich der Natur).“ (S. 37/38) Demgegenüber sei endlich eine neue Erzählung gefragt, die einer Welt voller lebendiger Beziehungen und sozialer Strukturen („Commons“).

Der Ökophilosoph Andreas Weber drückt es so aus: „Nicht einsame, autonome, souveräne Wesenheiten bevölkern diese Welt. Vielmehr besteht diese aus einem beständig oszillierenden Netz von dynamischen Interaktionen, in denen sich eins durch das andere verwandelt. Die Beziehung zählt, nicht die Substanz.“

In „Lebendigkeit: eine erotische Ökologie“, vollzieht Andreas Weber diese neue Sicht der Lebendigkeit als Selbst-durch-Viele nach. Dort schreibt er, beim Leben auf der Erde gehe es um „reziproke Spezifikation als ein gegenseitiges Hervorbringen. Erst in der Begegnung kommt der eigene Charakter zur Geltung. Die Welt ist nicht die Summe der Dinge, sondern die Symphonie der Beziehungen…“.

Silke Helfrich und David Bollier resümieren: „Das Individuum ist Teil eines Wir -genau genommen vieler Wirs„. Als Beispiel dafür, dass in anderen Kulturen ein solches Lebensverständnis schon lange vorliegt, wählt sie den aus einigen Bantu-Sprachen (Mittel- und Südafrika) geläufigen Seins-Begriff „Ubuntu“ und zitiert John Mbiti, einen christlichen Religionsphilosophen und Autor aus Kenia, der „Ubuntu“ folgendermaßen übersetzt: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, deshalb bin ich.“ (S. 45)

„In diesem Seinsverständnis“, folgern Helfrich und Bollier, „geht es im Kern darum, dass Beziehungen zwischen Einheiten grundlegender sind als die Einheiten selbst. … Dies bedeutet: die Quelle des Seins besteht aus allen lebendigen Einheiten heraus. Sein manifestiert sich in sehr verschiedener Art und Weise. (S. 46/47)

In der Krise, die der Mensch gerade durch die Betrachtung des Menschen als vereinzelten Egoisten erreicht hat, ist ein Wandel hin zu diesem, wie viele naturverbundene alte Völker und Kulturen zeigen, gar nicht ganz neuen Weltbild und Seinsverständnis , überlebensnotwendig. Dieses Bild geht davon aus, dass auch Menschen (wie die meisten Pflanzen und Tiere) miteinander kooperieren können und wollen, nicht „nur als Folge einer Bitte oder Aufforderung, sondern quasi selbstverständlich“ (Helfrich/ Bollier, S.17).

Wenn wir diese Erzählung von einem Leben voller lebendiger Beziehungen, Kooperationen und Interaktionen auch in religiöser Sprache ausdrücken wollen, dann müssen wir uns von einem Gott verabschieden, der als eigene Wesenheit die Quelle des Seins ist und in einem zentralistischen Akt „schöpft“ (siehe die Schöpfungsgeschichte, 1. Mose 1) sowie „Ordnung“ schafft oder anordnet (siehe u.a. die Erzählung der 10 Gebote, 2. Mose 20, 1 ff.). Wenn die Kraft der Lebendigkeit und damit die Quellen des Seins nur innerhalb sozialer, kooperativer und prozessualer Beziehungen entstehen, dann ist auch Schöpfung als dauernder Akt und ein Schöpfergott nur innerhalb dieser vielfältigen Beziehungen zu verorten und zu verstehen. Gott ist dann weniger ein klar umgrenztes transzendentes Gegenüber als vielmehr transzendierende Kraft, durch und in Beziehungen erfahrbar (offenbar). Der biblische Begriff von Gott als Liebe (1. Joh. 4, 16: „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“) kommt diesem Bild vielleicht am nächsten.

Es ist wichtig, dass uns bewusst ist, wie wir in der christlichen Tradition vor allem durch ein monotheistisch-zentralistisches Gottesbild geprägt sind und dieses uns bestimmte Leitbilder vorgibt. Selbst Jesus durchbricht als Jude seiner Zeit in den „Reich Gottes“-Predigten nicht ganz die herrschenden Königs- und (männlichen) Herrschaftsbilder, wenn er auch den „liebenden Vater“ („Abba“ im „Vaterunser-Gebet) und damit eine „zärtliche Verbindung“ in den Vordergrund stellt. Um uns für das neue Seinsverständnis auch in unserer Spiritualität und Religiosität zu verändern, brauchen wir Gottesbilder, die die Sehnsucht nach „Freiheit in Bezogenheit“ (Helfrich/Bollier), Kooperation in gegenseitiger Fürsorge, eben nach „Commons“, einem neuen (alten) Miteinander zum Ausdruck bringen. Bilder, die Gott nicht getrennt, einzeln und fern von uns und allem anderen Leben sehen, sondern verbunden, vielfältig, nicht verortbar und näher als wir uns selbst sein können. Gott ist dann weder in einer Hierarchie noch in einer Dualität zu umschreiben, sondern ausschließlich im Sein alles Lebendigen und seiner unzähligen sich stets wandelnden Beziehungen.

Noch sind wir hier auf einem langen, alle Religionen herausfordernden Weg. Noch sind die neuen Bilder nicht greifbar. Doch, dass die alten nicht mehr tragen, ist in einer sich stark wandelnden Welt, die fast täglich neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das Leben hervorbringt, all überall spürbar.

Natürlich könnte man sich die Frage stellen, ob es nicht reicht, nur von der „Macht der Commons“ (und nicht mehr von „Gott“) zu sprechen. Sicher ist das für einige auch ausreichend. „Commons“ sind in ihrer Reinform aber auch nicht „begreifbare“ „Vision“, etwas, das wir uns ersehnen, weil wir damit ein Ideal von Freiheit und Geborgenheit zugleich verbinden. Letztendlich ist diese Sehnsucht eine starke „Macht“, die in allem Lebendigen angelegt ist und das Leben vorantreibt und wandelt. Darin selbst, so könnten wir es sehen oder definieren, liegt eine spirituelle Sicht auf das Leben.

Wir können aber auch schlicht sagen: unsere Welt, wenn auch nicht jeder Einzelne in ihr, braucht das Religiöse und die in ihm liegende spirituelle Kraft. Wenn religiöse Rituale, Bilder und Erzählungen das Bewusstsein des Transzendenten der „Macht der Commons“ schulen, dann können die Religionen dem Wandel die ihnen eigene besondere emotionale und mentale Kraft schenken. Zugleich können sie die „Gebrochenheit“ des Lebens und die Begrenzungen des Individuums wie der Gemeinschaften als Organismen in diesem Prozess bewusst machen. Damit fördern sie in ihrer Haltung zum Leben Fehlerfreundlichkeit und Demut, aber auch Hoffnung und Zuversicht, die über die kurzzeitigen und begrenzten Existenzen von Individuen und Gemeinschaften hinausweisen.

Möglich ist dies aber nur mit dem Mut zur kritischen Aufarbeitung alter ontologischer Erzählungen in ihren Traditionen. Die Zeit ist reif nicht nur für den Wandel säkularer Wissenschaften und Philosophien des Westens, sondern auch für den Wandel der Religionen, vor allem der patriarchalisch-monotheistisch geprägten des Judentums, Christentums und Islams.

Autor: theologiedeslebens

Ev. Pfarrer in Dortmund

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